Im CIVrund 49 ging es um die tanzenden Haarzellen – rund um die Uhr. Haarzellen sind aber nicht die einzigen Zellen in unserem Körper, die rund um die Uhr aktiv sind, beileibe nicht! Auch unsere Hirnzellen sind Tag und Nacht aktiv, und manchmal kann das regelrecht nerven.
Sie haben es bestimmt auch schon erlebt: Da hört man ein Lied oder auch nur eine eingängige Melodie, und schon fährt sie einem Tag und Nacht im Kopf herum. Die Menschheit hat dafür verschiedene Bezeichnungen. Im deutschen Sprachraum redet man vom Ohrwurm, Amerikaner und Spanier nennen es „Klebelied“, Brasilianer „Ohrkaugummi“ und die Franzosen gar „Ohrenbohrer“.
Wissenschaftlich kann man ihn nicht messen oder ihm gar den Garaus machen. Dennoch gibt es einige Dinge, die wohl feststehen, wenn es um die Beschreibung der Spezies „Gemeiner Ohrwurm“ geht. Eine einfache Melodie, bequemes Tempo, angenehme Singhöhe. Frauen und Musiker werden häufiger infiziert, und Lieder mit Text bleiben eher im Kopf hängen als Instrumentalstücke. Und meist sind die Melodien kürzer als 30 Sekunden. Jeder Mensch wird von anderen Ohrwürmen heimgesucht. Ob nun Stairway to Heaven (Led Zeppelin) über Rivers of Babylon von Boney M. oder Waterloo von Abba, Sie werden Ihre Ohrwürmer sicher gut kennen.
Wie Ohrwürmer entstehen
Und wie kommt es nun zu diesen Ohrwürmern? Dr. Eckart Altenmüller, führender Neurologe und Direktor des Instituts für Musikphysiologie und Musikermedizin in Hannover, sagt: „Die wiederkehrenden Tonfolgen kurven häufig in einer Situation der entspannten Aufmerksamkeit durch den Kopf.“ Also beim Putzen, Fahrradfahren oder eben – wo haben Sie sich sicher schon beim Singen erwischt? – genau! Beim Duschen! Aber auch Müdigkeit oder Stress machen anfällig für Ohrwürmer. James Kellaris von der University of Cincinnati vergleicht das Phänomen mit einem „kognitiven Jucken“. Irgendetwas reizt das Hirn, und um mental an der störenden Stelle zu kratzen, wiederholt es einen Song, immer und immer wieder.
Musik quetscht sich ins Hirn
Evolutionsbiologisch macht das alles vermutlich Sinn. Früher konnte man sich noch nicht alles aufschreiben, also hat man viele Geschichten nicht nur erzählt, sondern wahrscheinlich gesungen. Dies sorgte dafür, dass die langen Texte leichter im Gedächtnis blieben. Von Homer über die mittelalterlichen Bänkelsänger bis Nena (99 Luftballons) wurden und werden Geschichten erzählt, im Gedächtnis behalten und weitergegeben.
Die Musikpsychologin Diana Deutsch vermutet, dass „Rhythmus und die vielen Wiederholungen in der Musik wahrscheinlich dafür sorgen, dass man sie leichter im Gedächtnis behält als reine Sprache“. Strophe, Refrain, Strophe, Refrain – die Musik quetscht sich durch ihren Aufbau förmlich ins Hirn.
Alle meine Entchen
Wenn man ein Lied nicht bis zum Ende hört, dann arbeitet das Gehirn weiter – es vervollständigt das Lied, das Hörzentrum bleibt genauso aktiv als würde die Musik tatsächlich weitergespielt. Das Gehirn ergänzt fehlende Wahrnehmungen automatisch. Nicht nur in der Musik, sondern auch beim Sehen (optische Täuschungen) und in der Sprache. Nur ist es in der Musik besonders leicht: Wegen der Wiederholungen ist klar, was als Nächstes kommt. Außerdem kann sich das Gehirn an gewissen Regeln festhalten: Tonfolgen werden meist nach einem bestimmten Schema aufgelöst. Würde Alle meine Entchen bei „See“ enden, wäre das unbefriedigend, das Lied wäre einfach nicht vollendet.
Das könnte erklären, warum Ohrwürmer sich oft genau dann einschleichen, wenn man nur den Fetzen eines Liedes irgendwo aufgeschnappt hat: Das Gehirn will zum Ende kommen, greift sich den Songfetzen und spielt ihn fertig, gerät dabei jedoch in eine Endlosschleife. „Deswegen kann es helfen, das Lied ganz zu Ende zu singen“, sagt James Kellaris.
Melodien als Schlüsselreize
Melodien können wie Gerüche, Farben oder Worte Emotionen hervorrufen, die mit Erinnerungen verbunden sind. So wie der Geruch von frischem Apfelkuchen uns in die Kindheit und Omas Küche zurückversetzt, können auch Melodien uns an Situationen erinnern. „Es sind Schlüsselreize, die beim Einspeichern des Liedes unbewusst mit abgelegt wurden. Kommt man wieder in die gleiche Situation, taucht auch die Melodie ganz unvermittelt wieder auf“, sagt Altenmüller. Ab und zu an Omas Apfelkuchen denken – gerne. Aber den ganzen Tag? Timothy Griffiths forscht an der Newcastle University an der Geräuschwahrnehmung und untersucht Menschen mit musikalischen Halluzinationen. Das sind Stücke, die plötzlich im Kopf auftreten und sich so real anhören, als spiele irgendwo ein Radio. Oft trifft es gerade schwerhörige Menschen, und hier liegt für Griffiths die Erklärung. Offenbar suchen die musikverarbeitenden Hirnregionen ständig nach Tönen, die sie interpretieren können. Wenn über die Ohren nichts hereinkommt, wird ein zufälliger Impuls des Gehirns als Ton interpretiert, mit bekannten Erinnerungen abgeglichen und daraus eine Melodie gemacht, die in eine Endlosschleife gerät.
Was man dagegen tun kann? Das Gehirn fordern! Kochen oder putzen sind zwar notwendige Tätigkeiten, da das Gehirn hier aber nicht so stark gefordert ist, kann sich der Ohrenbohrer ans Werk machen. Oder sich ein kompliziertes Rezept aussuchen und gleich zwei Rezepte parallel kochen! Oder „richtige“ Musik hören – damit lassen sich Ohrwürmer prima vergraulen. Aber aufpassen – nicht gerade Modern Talking oder Abba einlegen! Sonst hat man das Gegenteil dessen erreicht, was man eigentlich wollte – und sich den nächsten Ohrwurm gefangen …
Entdeckt in http://www.zeit.de/zeit-wissen/2007/04/Ohrwurm
Stephanie Kaut
CIVrund 50